Überlebensrecht - eine Einführung


1. Die Verletzlichkeit unseres Lebensraumes


Der Lebensraum des Menschen, die Erde, wird heute als ein sich selbst steuerndes System verstanden, das aus vier Komponenten besteht: Festland, Wasser, Atmosphäre und Biomasse (die Gesamtheit aller Lebewesen). Das Erdsystem, das sich im Verlauf der Erdgeschichte entwickelt hat, wird durch ein Zusammenspiel vieler Faktoren, durch die Kreisläufe von Wasser und Kohlenstoff und durch Rückkoppelungsprozesse in einem prekären Gleichgewicht gehalten. Von außen wirkt die Sonnenstrahlung auf das Erdsystem ein, ohne die sich kein Leben hätte entwickeln können. Innerhalb dieses Systems haben sich bisher Änderungen so langsam vollzogen, dass sich die Lebewesen anpassen konnten. Auch die Veränderungen durch das Einwirken des Menschen geschahen bisher allmählich und oft unbemerkt.

Erst in den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts wurde erkannt, wie intensiv die Einwirkung des Menschen auf das komplexe und empfindliche System geworden ist: Das Gleichgewicht wird gestört. Daraus entstehen Gefahren neuer Art. Der Klimawandel ist ein gutes Beispiel dafür. Wir haben weder genügend Zeit, uns daran anzupassen, noch hat eine wachsende Erdbevölkerung von jetzt schon fast sieben Milliarden Menschen die Möglichkeit, das Problem durch Umsiedlung in Gebiete zu lösen, die näher an den Polen oder in größeren Höhen über dem Meeresspiegel liegen. Vor allem aber ist es schwierig, sich den sekundären Folgen der Erderwärmung zu entziehen. Schon bei einem Anstieg des Meeresspiegels um wenige Meter würden große Gebiete an den Küsten, darunter riesige Städte, unbewohnbar; andere würden einer erhöhten Gefahr häufiger Überschwemmungen ausgesetzt. Als tertiäre Folgen wären riesige Flüchtlingsströme und Konflikte um die knapper werdenden bewohnbaren Gebiete zu erwarten. Bei unbegrenzt weiter wachsendem Anteil der Treibhausgase an der Atmosphäre und fortgesetzter Erwärmung stünden schließlich die Überlebensbedingungen für viele Tierarten und letztlich auch für den Menschen auf dem Spiel.

Es bleibt nur ein Ausweg: Die Änderung des menschlichen Verhaltens, die Anpassung an das bestehende Erdsystem, die Wiederherstellung und Bewahrung seines Gleichgewichts. Die Haltung des Menschen in seiner Umwelt ist zunächst ein Thema der Ethik. Es ist aber auch eine neue Aufgabe für das internationale Recht: Die Gefahren, um deren Vermeidung es geht, werden in der Regel durch das Verhalten einer nicht genau zu bestimmenden Vielzahl von Menschen verursacht. Wer ist für den Anstieg des CO2-Anteils in der Atmosphäre mit seinen Folgen für das Klima verantwortlich? Jeder trägt dazu bei, der Energie verbraucht, die zum größten Teil immer noch durch die Verbrennung kohlenstoffhaltiger Stoffe erzeugt wird; jeder, der am motorisierten Verkehr teilnimmt und jeder, der einen großen Anteil seines Nahrungsbedarfs mit Fleisch deckt.


2. Eine neue Art von Recht


Nur durch gemeinsame Regeln ist es möglich, die Störung oder Zerstörung des ökologischen Gleichgewichts zu verhindern und damit die Bedingungen zu schützen, die als Voraussetzung für das Überleben auch des Menschen erkannt sind. Die Regelungen sind nur wirksam, wenn sie global gelten und wenn sie rechtlich bindenden Charakter für alle Staaten haben. Schon wenn sich ein großer Staat ihnen nicht unterwirft, ist ihre Wirksamkeit eingeschränkt.

Daraus ergibt sich zunächst die Pflicht der Regierungen, an der Ausarbeitung von Regeln mitzuwirken, durch welche die Nutzung globaler öffentlicher Güter – wie der Atmosphäre – so geregelt wird, dass ihr Bestand gesichert ist. Die gemeinsame Verantwortung für den Schutz der Umwelt ist erstmals in der Erklärung der Umweltkonferenz der Vereinten Nationen in Stockholm (1972) anerkannt, später durch die Erklärung von Rio über Umwelt und Entwicklung (1993) und die Millenniums-Erklärung der Staats- und Regierungschefs (2000) bekräftigt worden. Aber es wurde bisher nicht eindeutig gesagt, dass die Souveränität der Staaten an dieser gemeinsamen Verantwortung ihre Grenze finden muss. Wenn dies nicht erkannt und anerkannt wird, besteht die Gefahr, dass die lebenswichtigen globalen öffentlichen Güter, wie die Atmosphäre, so lange ausgebeutet werden, bis sie erschöpft oder zerstört sind.

Die staatliche Souveränität muss gegenüber dem höheren Gut der Erhaltung der Lebensbedingungen für die ganze Menschheit zurücktreten. Daraus folgt, dass sich die Regierungen nicht auf die Souveränität ihrer Staaten berufen dürfen, um sich den Regeln zum Schutz globaler öffentlicher Güter zu entziehen.

Hier zeigt sich eine Parallelität zu den Menschenrechten des Einzelnen: Die Autorität der Staaten nach innen findet – wie jetzt allgemein anerkannt wird – ihre Grenze an einem Kernbestand von Menschenrechten. In gleicher Weise müssen Regeln, die das Überleben der Menschheit schützen, die äußere Souveränität der Staaten einschränken. Diese Regeln werden hier als "Überlebensrecht" bezeichnet. Menschenrechte und Überlebensrecht stehen in engem Zusammenhang: Der Schutz des einzelnen Menschen und die Wahrung der Lebensbedingungen für die Menschheit als ganze sind die beiden höchsten für alle Staaten geltenden Rechtsgüter.


3. Beispiele für das Überlebensrecht


Es war die Erdatmosphäre, die als besonders empfindlicher und gefährdeter Teil der globalen Umwelt zuerst durch völkerrechtliche Vereinbarungen geschützt wurde. Das erste war das Übereinkommen vom 13. Oktober 1979 über weiträumige grenzüberschreitende Luftverunreinigungen. In Protokollen von 1988, 1991 und 1994 wurden Maßnahmen gegen Emissionen von Stickoxiden, flüchtige organische Verbindungen und Schwefelverbindungen vereinbart.

Mit dem Wiener Übereinkommen zum Schutz der Ozonschicht (22. März 1985) und dem Montrealer Protokoll (16. September 1987) wurden neue Wege beschritten: Es genügte als Anlass zum Handeln, dass menschliche Tätigkeit die Ozonschicht wahrscheinlich verändere und damit die menschliche Gesundheit wahrscheinlich gefährde. Das "Vorsorgeprinzip" wurde damit zum ersten Mal praktisch angewendet. Man einigte sich auch auf ein konkretes Ergebnis der vereinbarten Maßnahmen: Die Stoffe, die zu einem Abbau der Ozonschicht führen, sollen vollständig beseitigt werden. Das Wiener Übereinkommen und das Montrealer Protokoll legen nicht nur ein klares Ziel fest, sondern auch die konkreten Schritte, durch die dieses Ziel erreicht werden soll. Dabei wird die Hauptlast den Industriestaaten auferlegt, während den Entwicklungsländern längere Fristen für die Beseitigung der gefährlichen Stoffe eingeräumt werden.

Weitere Schritte wurden mit dem Rahmenübereinkommen der Vereinten Nationen über Klimaänderungen vom 9. Mai 1992 getan, ausgehend von "der Sorge der Menschheit angesichts der Änderungen des Weltklimas und ihrer nachhaltigen Auswirkungen". Wichtig ist die Formulierung des Zieles in Art 2 des Rahmenübereinkommens: Die Stabilisierung der Treibhausgase in der Atmosphäre auf einem Niveau, das eine gefährliche anthropogene Störung des Klimasystems vermeidet. Wo dieses Niveau liegt, wurde in dem Rahmenübereinkommen noch nicht festgelegt.

Zunächst ging es darum, den Rahmen mit konkretem Inhalt, also mit Verpflichtungen zu ersten Reduzierungs-Schritten auszufüllen. Das erwies sich als sehr schwierig: Es dauerte fünf Jahre, bis das Protokoll von Kyoto unterschriftsreif war, und noch mehr Jahre, bis es von einer genügenden Anzahl von Staaten ratifiziert wurde, so dass es schließlich 2005 in Kraft treten konnte. Dabei blieb die Reduzierungspflicht auf Industriestaaten beschränkt – und sie ist keineswegs einschneidend. Die Emissionen der sechs wichtigsten Treibhausgase sollen bis 2012 um mindestens fünf Prozent unter das Niveau von 1990 gesenkt werden. Wie die Reduzierungspflichten verteilt werden sollten, war die wohl schwierigste und umstrittenste Frage. Einige Grundsätze dafür sind im Art. 3 des Rahmenübereinkommens festgelegt, aber über ihre Anwendung wurde zäh verhandelt. Die damals 15 Mitgliedsstaaten der EU versuchten, ein Beispiel zu geben. Sie übernahmen acht Prozent der Reduzierungen, die USA sieben, Japan sechs, während Russland seine Emissionen nicht vermindern muss, aber auch nicht über das Niveau von 1990 hinaus ansteigen lassen darf. Nun kommt es darauf an, das Kyoto-Protokoll nicht nur durchzuführen, sondern auch durch neue Regeln zu ersetzen, die zu einer viel schnelleren und weiteren Reduzierung der Treibhausgas-Emissionen führen müssen.


4. Weitere Felder des Überlebensrechts


Solange es noch Nuklearwaffen gibt, deren Zahl jetzt auf 25 000 geschätzt wird, besteht auch die Gefahr ihres Einsatzes, sei es durch menschliches Versagen, sei es durch Terroristen, in deren Hände solche Waffen gelangt sind, sei es bei einem Versagen der Abschreckung. Nuklearwaffen werden, sowohl wegen ihrer Explosivkraft, die in Kilotonnen oder Megatonnen des stärksten konventionellen Sprengstoffs TNT ausgedrückt wird, als auch wegen ihrer Strahlenwirkung, nicht auf militärische Ziele beschränkt werden können, sondern immer auch, wenn nicht überwiegend, zivile Opfer haben. Ob ihr Einsatz trotzdem gerechtfertigt werden kann, ist immer umstritten gewesen. Sie können aber auch – je nach ihrer Zahl und Stärke und dem Ort, an dem sie zur Explosion gebracht werden – die Umwelt stören oder zerstören. So könnten Nuklearwaffen, in der Atmosphäre gezündet, die ohnehin bereits geschädigte Ozonschicht über weite Flächen zerstören, mit den bekannten langfristigen Folgen für die menschliche Gesundheit. Nuklearwaffen, die auf dem Boden explodieren, würden riesige Massen von Erdreich in die Atmosphäre schleudern, wo sie sich verbreiten und die Sonnenstrahlen abhalten würden, so dass die Temperaturen sinken und das Wachstum der Pflanzen angehalten würden. Angesichts solcher Folgen drängt sich die Einsicht auf, dass Nuklearwaffen nur einen Zweck haben können: Die Abschreckung von ihrem Einsatz. Dann aber können und müssen diese Waffen immer weiter vermindert und schließlich ganz abgeschafft werden – durch internationale Vereinbarungen, die zum Überlebensrecht gehören.

In der Einleitung war bereits vom Wasserkreislauf die Rede, der ein wesentlicher Teil des Erdsystems und eine Bedingung für das Leben auf der Erde ist. Kein anderer Planet trägt Wasser in solcher Fülle und in allen drei Aggregatzuständen*. Aber nur 0,1 Prozent dieser Wassermassen nehmen an dem kurzfristigen Wasserkreislauf teil, den der Mensch nutzen kann. Die Leistungsfähigkeit dieses Kreislaufs stößt nun ebenfalls an Grenzen. Es hat sich gezeigt, dass die Nutzung der anderen Ressourcen der Erde mit einem vervielfachten Wasserverbrauch verbunden ist. So werden für die Gewinnung von 1 kg Trockenmasse Weizen 540l Wasser verbraucht, für Kartoffeln 640l, für Reis 680l, für Fleisch dagegen mehrere Tausend Liter. Gleichzeitig wird das Wasser in diesem Kreislauf durch die Einleitung von Abfällen, durch Rückstände von Salz, Insektenvernichtungsmitteln und von Dünger immer mehr belastet. Es wird geschätzt, dass 1,1 Milliarden Menschen keinen Zugang zu sauberem Wasser haben. Offensichtlich wird man bei der Lösung dieses Problems an mehreren Stellen gleichzeitig ansetzen müssen. Nationale Regelungen reichen nicht, um einen Wasserkreislauf, der den ganzen Globus erfasst, auf wirksame Weise zu schützen.

Auch auf diesen Feldern werden global geltende, rechtlich bindende Regelungen geschaffen werden müssen. Mit den Gefahren für die Überlebensbedingungen werden auch Bedeutung und Umfang des Überlebensrechts wachsen. Das Verständnis des Staates als oberste politische Macht muss sich ändern. Staaten dürfen sich nicht mehr ausschließlich an ihren nationalen Interessen orientieren. Sie müssen vielmehr ihre neue Verantwortung als Treuhänder für die Erde als ganze und für ihre Erhaltung als Lebensraum des Menschen auf sich nehmen.


* Siehe dazu: Wolfram Mauser, Das blaue Gold: Wasser. In: Fischer, Wiegand (Hg.), Die Zukunft der Erde. Frankfurt 2005. S. 219 ff.

Dies ist eine Zusammenfassung des Blog-Eintrags "Überlebensrecht – eine Einführung", der in voller Länge hier zu lesen ist. Eine ausführliche Fassung dieses Artikels ist erschienen in: Scheidewege - Jahresschrift für skeptisches Denken. Nr. 39, Jahrgang 2009/2010.

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